Als schwuler Mann ist mir immer wieder aufgefallen, dass es nicht Männer sind, die mich inspirieren, sondern Frauen und die Vielfalt der Weiblichkeit, meine Kreativität sowie meine Sichtweise auf die Welt beeinflussen. Dieses Projekt, das ich in der letzten Ausgabe vorstellen durfte, bildet da keine Ausnahme. Indem ich verschiedene weibliche Stereotypen aus der westlichen Gesellschaft bilde und inszeniere, wird eine Beziehung zwischen meiner eigenen Queerness und gewissen Themen im Zusammenhang mit Feminismus hergestellt.

Ausgangspunkt für dieses Projekt war A Portfolio of Models der renommierten Performance-Künstlerin Martha Wilson, die sechs verschiedene weibliche Charaktere durch Fotografie und Schrift präsentierte. Diese überspitzten Stereotypen wiesen kritisch auf die begrenzten, für Frauen verfügbaren, Rollen hin und brachten die politischen Veränderungen ihrer Zeit zum Ausdruck.

Was mich besonders inspiriert hat, war das Thema der Identität und wie sehr sie performativ sein kann, wenn wir es zulassen, mit ihr zu spielen, statt sie als gegeben zu betrachten. Bei diesem Projekt konnte ich genau das umsetzen: Ich stellte verschiedene Bilder und Vorstellungen von Frauen zusammen und erweckte sie zum Leben, indem ich im Austausch mit der Fotografin ihre Kostüme entwarf, sie schminkte, sie in Textform beschrieb und die geeigneten Aufnahmeorte auswählte.

Obwohl ich diese Arbeit sehr ernsthaft anging, sollte es immer unterhaltsam und ironisch dargestellt werden. Die Frage, die ich mir immer wieder stellte, war: werden das andere auch so verstehen? Um diese Frage zu beantworten, habe ich in den letzten Monaten damit begonnen, als eine oder mehrere Figuren vor einem queeren Publikum, aber auch vor Gruppen ausserhalb von Queer-Spaces aufzutreten. Und zu meiner Freude waren die Reaktionen sehr positiv und haben mich ermutigt, diese lustige Reise mit spannenden und neuen Erfahrungen fortzusetzen.

In der letzten Ausgabe stellten wir die Feministin vor, die sich ohne Bedenken bei den Pissoirs des Männerklos fotografieren liess. Nun präsentieren wir eine Frau, die sich ebenfalls ungeniert in männer-dominierten Räumen befindet, allerdings aus ganz anderen Gründen.


The Girlboss

A decade ago, this “self-made” young lady started her career with her father giving her a small loan of a million dollars. Today she reigns the tech industry, as her male peers fear or even loathe her increasing success. She acquires smaller companies by making them offers they simply can’t refuse, owning 51 percent of all shares, sucking them dry before catching her next prey. Her business savvy and entrepreneurial skills have made her the most infl uential woman to lead a tech start-up, as named by Forbes 30 under 30. She might be the only woman in the conference room, but she prefers it that way. Don’t talk to her unless you’re being talked to, don’t look her in the eyes and certainly don’t be late, or else she’ll fi re you on the spot. In her free time, she enjoys a cruise on her yacht or playing golf with her partner. Despite her engagement to another woman, she doesn’t identify as “queer”. Nevertheless, her company is the main sponsor at the annual Pride festival. 

If you don’t have an appointment ahead of time, don’t even bother showing up. You will find this lady on the top floor of the prime tower in a conservative yet elegant suit and a fierce manicure so sharp it could cut you if you get too close. Beware of the dragon!

Die «Girlboss»

Vor einem Jahrzehnt begann diese “self-made” junge Dame ihre Karriere, indem ihr Vater ihr einen kleinen Kredit von einer Million Dollar gab. Heute regiert sie die Tech-Branche, während ihr männlicher Umkreis ihren wachsenden Erfolg fürchtet oder sogar verabscheut. Sie kauft kleinere Unternehmen auf, indem sie ihnen ein Angebot macht, das sie nicht ablehnen können, besitzt 51 Prozent aller ihrer Aktien und saugt sie komplett aus, bevor sie sich ihre nächste Beute schnappt. Ihr Geschäftssinn und ihre unternehmerischen Fähigkeiten haben sie zur einflussreichsten Frau an der Spitze eines Tech-Start-ups gemacht, die von Forbes zu den 30 unter 30 ernannt wurde. Sie ist vielleicht die einzige Frau im Konferenzraum, aber das ist ihr auch lieber so. Sprich sie nur an, wenn du angesprochen wirst, schau ihr nicht in die Augen und komme auf keinen Fall zu spät, sonst fliegst du auf der Stelle raus. In ihrer Freizeit ist sie entweder auf Kreuzfahrt mit ihrer Yacht oder spielt mit ihrer Partnerin Golf. Obwohl sie mit einer anderen Frau verlobt ist, bezeichnet sie sich nicht als “queer”. Dennoch ist ihr Unternehmen der Hauptsponsor des jährlichen Pride-Festivals.

Wenn du vorher keinen Termin abgemacht hast, brauchst du gar nicht erst zu erscheinen. Du findest diese Dame im obersten Stockwerk des Prime Towers in einen schlichten aber stilvollen Anzug gekleidet und manikürt mit so scharfen Krallen, dass sie dich schneiden könnten, wenn du ihr zu nahekommst. Hüte dich vor dem Drachen!

 


Kollektiv Chroma @aboutchroma

Künstlerische Leitung: Paul Grieguszies / Shelby Cummings (er / sie), 1995, @ishelbycummings

Fotografie: Eva Schneuwly (sie), 1995, @eggasch

Nagelkust: Nina Dettwiler (sie), 1995, @nein__a

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