Über die Gründung

von Ruben Ott

Dieser Beitrag erschien zuerst auf schwulengeschichte.ch


Vor zehn Jahren startete eine Handvoll falsch­se­xu­el­ler Ju­gend­li­cher die heutige Milch­ju­gend. Der Anfang der grössten Deutsch­schwei­zer queeren Ju­gend­be­we­gung bildete für mich den Ab­schluss meines jah­re­lan­gen queeren Ju­gend­ak­ti­vis­mus.

Titelblatt der ersten Milchbüechli-Ausgabe von Juni 2012.

Unsere Ge­ne­ra­ti­on ist jene, die gerade noch das Aus­ster­ben von vielen vor allem in den 1990er-Jahren ent­stan­de­nen Ju­gend­grup­pen mit­be­kom­men hat. Das Internet war das neue Ding. Man konnte dort sehr viel ein­fa­cher mit sehr vielen Menschen in Kontakt kommen, wenn man noch nicht bereit dazu war, seinen Eltern zu beichten, warum man mitten unter der Woche den langen Weg nach Zürich, Bern oder Basel auf sich nehmen wollte. Viele knüpften auf Pur­ple­m­oon und anderen queeren Chat­platt­for­men erste Freund- und Lieb­schaf­ten, tausch­ten sich Coming-outs oder un­er­wi­der­te Schwär­me­rei­en aus - und oft waren damit die Grund­be­dürf­nis­se zarter Teenies erstmal ab­ge­deckt. Das Internet war Segen und Fluch zugleich.

Auch po­li­tisch lief nicht mehr viel. Nachdem das Part­ner­schafts­ge­setz 2005 nach jah­re­lan­gem Kampf an­ge­nom­men und rea­li­siert war, fühlten sich viele Aktivist_innen erst einmal glück­lich und er­schöpft. Die Dach­ver­bän­de Pink Cross, LOS und fels fo­kus­sier­ten sich auf die The­ma­ti­sie­rung gleich­ge­schlecht­li­cher Liebe in der Schule und die Un­ter­stüt­zung der Jugend in ihrem Coming-out. Schwie­ri­ge Schwer­punk­te, wenn sich die Or­ga­ni­sa­tio­nen der Ziel­grup­pe gerade ver­dün­ni­sie­ren.

Mit der Auf­klä­rungs­kam­pa­gne "Hallo Welt!" an Aargauer Kan­tons­schu­len hatte Ivo Colombo im Rahmen seiner Ma­tu­ri­täts­ar­beit von 2005 den Zeit­geist ge­trof­fen. "Hat jemand Lust, eine Kan­ti­grup­pe zu machen?", schrieb Laura Ei­gen­mann (heute im Vorstand der LOS) in das da­zu­ge­hö­ri­ge Dis­kus­si­ons­fo­rum. Wir packten es an. Wie man sich en­ga­giert, das wussten wir nicht so genau. Wir pro­bier­ten einfach aus und sam­mel­ten Er­fah­run­gen durch unsere Erfolge ebenso wie bei unserem Schei­tern.

Aber die eigene, be­frei­en­de Er­fah­rung unserer Coming-outs stärkte uns und wir waren mo­ti­viert etwas zu tun, damit es anderen leichter fallen sollte. Viele Queers hatten diesen Willen. Aber die daraus ent­stan­de­nen Projekte und Treffs gingen oft rasch wieder ein. Noch fehlte eine aktive Ju­gend­be­we­gung, die auch das Know-how für Ak­ti­vis­mus wei­ter­ge­ben und diesen un­ter­stüt­zen konnte.

Erst im April 2010 gelang es mit der "LGBT-Jugend", damals eine Fach­grup­pe von Pink Cross und LOS, eine Kon­fe­renz in Bern zu or­ga­ni­sie­ren. "Go for LGBT Youth!" war mein zweiter Anlauf, einen solchen Event auf die Beine zu stellen, und es war ein grosser Erfolg. 80 queere Ju­gend­li­che aus drei Sprach­re­gio­nen und vom ganzen LGBT-Spektrum waren dabei. Dies wohl­ge­merkt zu einer Zeit, als in der Deutsch­schweiz noch niemand von LGBT+ sprach und das TGNS (Trans­gen­der Network Schweiz) gerade mal am Ent­ste­hen war. Leider schaff­ten wir es nicht, die Kräfte aus dem grossen Tag in einen nach­hal­ti­gen Ak­ti­vis­mus zu lenken.

Noch vor der Kon­fe­renz in Bern, am 25-jährigen Jubiläum von IGLYO (The In­ter­na­tio­nal LGBTQI Youth and Student Or­ga­ni­sa­ti­on) 2009 in Ams­ter­dam, hatte ich eine wichtige Be­geg­nung mit der Re­dak­ti­on der nie­der­län­di­schen queeren Zeit­schrift Expreszo. In den Nie­der­lan­den gäbe es keine na­tio­na­le LGBT-Ju­gend­or­ga­ni­sa­ti­on, in gewisser Weise über­neh­me daher Expreszo diese Funktion. Spannend, fand ich, denn auch in der Schweiz fehlte ein Dach für die queere Jugend. Bei uns lief das meiste online über Pur­ple­m­oon. Dass ich die Idee der Zeit­schrift einmal über­neh­men könnte, hätte ich damals aber nie gedacht.

Erst im Sommer 2011, also zwei Jahre nach der Anregung in Ams­ter­dam und ein Jahr nach der Kon­fe­renz in Bern, begann sich bei mir die Idee für eine Zeit­schrift als Basis für eine queere Ju­gend­be­we­gung zu ver­fes­ti­gen. Mitt­ler­wei­le war ich 26 Jahre alt geworden, gehörte also nicht mehr in die Ziel­grup­pe (16 bis 25), ich war jedoch über­zeugt davon, in diesem Projekt noch um­zu­set­zen, was ich durch viel­fa­ches Schei­tern und un­zäh­li­ge Be­geg­nun­gen in der Com­mu­ni­ty gelernt hatte. Nicht zuletzt, dass sich ein par­ti­zi­pa­ti­ves Ju­gend­pro­jekt ei­gent­lich gut fi­nan­zie­ren lassen müsste.

"Weisst du wie auf­wän­dig es ist, ein Heft raus­zu­brin­gen?" Anfangs konnte ich meine Mit­strei­ter*innen nicht über­zeu­gen, beim Projekt Zeit­schrift mit­zu­ma­chen. Doch zum Glück haben mich einige trotzdem un­ter­stützt. Mit ihnen konnte ich die Idee dis­ku­tie­ren, kon­kre­ti­sie­ren und richtig planen. Im Herbst 2011 übernahm Nicola Caduff schliess­lich den grossen Part, das Konzept "Ent­wick­lung eines queeren Ju­gend­ma­ga­zins" aus­zu­for­mu­lie­ren, um vom zu­stän­di­gen Bun­des­amt För­der­gel­der für die ersten paar Ausgaben be­an­tra­gen zu können.

Darin schrie­ben wir: "Die vor­han­de­nen In­for­ma­tio­nen für queere Ju­gend­li­che stehen damit im Kontext des Nicht-Da­zu­ge­hö­rens und An­ders­seins […]. Es fehlt ein In­for­ma­ti­ons­ka­nal, der einen un­ver­krampf­ten Zugang zu einem po­si­ti­ven queeren Selbst­ver­ständ­nis er­mög­licht." Neben diesem po­si­ti­ven Zugang zu In­for­ma­tio­nen gehörte zu den über­ge­ord­ne­ten Zielen auch "eine Platt­form, dank der sich queere Peers aus­tau­schen und or­ga­ni­sie­ren können" sowie eine "Mit­wir­kungs­mög­lich­keit mit sicht­ba­rem Ergebnis".

Flo Vock & Marco Cristuzzi (v.l.n.r.) an der ersten Redaktionssitzung.

Im Herbst 2011 konnten wir dann Florian Vock (heute im Vorstand von Pink Cross) da­zu­ge­win­nen, Ver­ant­wor­tung für die Re­dak­ti­on zu über­neh­men. Er prägte die in­halt­li­che Ent­wick­lung unseres Magazins, das wir später Milchbüechli nannten und stärkte das Selbst­ver­ständ­nis der ent­ste­hen­den Bewegung mit dem neuen Begriff "falsch­se­xu­ell". Auf die Mit­ar­beit von Marco Cris­tuz­zi durfte ich bereits an der Kon­fe­renz in Bern zählen. Er ge­stal­te­te über längere Zeit das Layout der Zeit­schrift. Mit weiteren Mit­strei­ter*innen trafen wir uns am 19./​20. November 2011 zu einem Re­dak­ti­ons­weekend. Wir tauften die Zeit­schrift Milchbüechli und die Re­dak­ti­on begann mit der kon­zep­tio­nel­len Arbeit.

Den Verein dazu grün­de­ten wir relativ un­spek­ta­ku­lär am 8. Februar 2012 im Aarauer Volks­haus und nannten ihn "Verein zur För­de­rung einer queeren Ju­gend­platt­form" (heute "Milch­ju­gend"). Wir wählten nicht den gleichen Namen wie für das Heft, da wir damals schon hofften, dass einmal eine starke queere Ju­gend­be­we­gung aus dem Projekt ent­ste­hen sollte. Rück­bli­ckend bin ich etwas über­rascht, wie zu­rück­hal­tend wir an­sons­ten diese Vision be­schrie­ben hatten, im Konzept steht le­dig­lich: "Po­ten­ti­el­le Wei­ter­ent­wick­lun­gen können sich direkt auf das Magazin beziehen oder aber auch Ne­ben­ak­ti­vi­tä­ten zum Magazin sein."

"Offene Re­trai­ten" waren von Anfang an vor­ge­se­hen. Das erste Weekend im November 2012 hatte jedoch gerade mal 11 Teil­neh­men­de. Im Fol­ge­jahr kürzten wir die Retraite auf einen Tag und er­reich­ten dann doch 24 Aktivist*innen. Heute sind "Milch­rei­se" (Wo­chen­end­la­ger) und "Milch-Uni" (Wei­ter­bil­dungs­weekends) mit mehreren Dutzend Plätzen jährlich rasch aus­ge­bucht.

Weniger funk­tio­nier­te die an­ge­streb­te Online-Com­mu­ni­ty zum ge­druck­ten Heft. Es schei­ter­te wohl schon daran, dass sich - trotz pro­fes­sio­nell durch eine Agentur er­stell­ter Website - das Auf­schal­ten der ganzen Artikel als tech­nisch viel zu auf­wän­dig erwies. Die nie­der­schwel­lig zu­gäng­li­chen Dis­kus­sio­nen zu den Artikeln blieben also aus.

Erster Auftritt von Mona Gamie an der Milchbüechli-Party im Oktober 2013.

Dafür startete mit der ersten "Milch­büech­li Party" im Dezember 2012 bereits eine "Ne­ben­ak­ti­vi­tät zum Magazin", die zweite folgte im Oktober 2013 im Aarauer KiFF. Ich erinnere mich an den wun­der­ba­ren Auftritt der Dragqueen New­co­me­rin Mona Gamie (deren Alter Ego Tobias Urech heute im Vorstand der Milch­ju­gend ist).

Ganz locker verlief die An­fangs­zeit jedoch nicht. Auf­merk­sa­me Leser*innen werden anhand der ge­nann­ten Namen schon eine Män­ner­las­tig­keit erkannt haben. Wir waren bemüht dem ent­ge­gen­zu­wir­ken. Ich bin Laura Ei­gen­mann sehr dankbar, dass sie bald ein­ge­stie­gen ist und durch­ge­hal­ten hat.

Während es mit der Re­dak­ti­on ei­ni­ger­mas­sen lief, wussten wir vom Verein auf or­ga­ni­sa­to­ri­scher Seite nicht, ob wir über­haupt über­le­ben. Die meisten Aufgaben machten immer etwa dieselbe Handvoll Aktivist*innen. Auf Dauer führte das zu Über­las­tun­gen. Im Frühling 2013 blieb ich schliess­lich alleine im Vorstand übrig. Ich war am Punkt das Projekt trotz toller Erfolge auf­zu­ge­ben und traf mich mit Roman Heggli (heute Ge­schäfts­lei­ter von Pink Cross) um ihm mein Leid zu klagen. Er über­rasch­te mich mit der spon­ta­nen Zusage, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Später erzählte er mir dann, das sei für ihn schon klar gewesen, bevor wir uns ge­trof­fen hatten. Wir machten also weiter und konnten Ende 2013 mit dem Ab­schluss­be­richt zum Projekt "Ent­wick­lung eines queeren Ju­gend­ma­ga­zins" ein Zwi­schen­fa­zit ziehen.

Ab 2014 konnte die Milch­ju­gend als Bewegung richtig durch­star­ten. Das übernahm aber schon bald der neue Vorstand mit Roman Heggli, Florian Vock und Kristina Schüp­bach. Ich durfte die Ju­gend­or­ga­ni­sa­ti­on endlich an die Jugend über­ge­ben. Bis heute sehe ich mit grosser Freude zu, wie diese bunte Bewegung wei­ter­wächst und in­ner­halb der Com­mu­ni­ty lan­des­weit an Be­deu­tung gewinnt.

Tobias Urech