Über die Gründung
von Ruben Ott
Dieser Beitrag erschien zuerst auf schwulengeschichte.ch
Vor zehn Jahren startete eine Handvoll falschsexueller Jugendlicher die heutige Milchjugend. Der Anfang der grössten Deutschschweizer queeren Jugendbewegung bildete für mich den Abschluss meines jahrelangen queeren Jugendaktivismus.
Unsere Generation ist jene, die gerade noch das Aussterben von vielen vor allem in den 1990er-Jahren entstandenen Jugendgruppen mitbekommen hat. Das Internet war das neue Ding. Man konnte dort sehr viel einfacher mit sehr vielen Menschen in Kontakt kommen, wenn man noch nicht bereit dazu war, seinen Eltern zu beichten, warum man mitten unter der Woche den langen Weg nach Zürich, Bern oder Basel auf sich nehmen wollte. Viele knüpften auf Purplemoon und anderen queeren Chatplattformen erste Freund- und Liebschaften, tauschten sich Coming-outs oder unerwiderte Schwärmereien aus - und oft waren damit die Grundbedürfnisse zarter Teenies erstmal abgedeckt. Das Internet war Segen und Fluch zugleich.
Auch politisch lief nicht mehr viel. Nachdem das Partnerschaftsgesetz 2005 nach jahrelangem Kampf angenommen und realisiert war, fühlten sich viele Aktivist_innen erst einmal glücklich und erschöpft. Die Dachverbände Pink Cross, LOS und fels fokussierten sich auf die Thematisierung gleichgeschlechtlicher Liebe in der Schule und die Unterstützung der Jugend in ihrem Coming-out. Schwierige Schwerpunkte, wenn sich die Organisationen der Zielgruppe gerade verdünnisieren.
Mit der Aufklärungskampagne "Hallo Welt!" an Aargauer Kantonsschulen hatte Ivo Colombo im Rahmen seiner Maturitätsarbeit von 2005 den Zeitgeist getroffen. "Hat jemand Lust, eine Kantigruppe zu machen?", schrieb Laura Eigenmann (heute im Vorstand der LOS) in das dazugehörige Diskussionsforum. Wir packten es an. Wie man sich engagiert, das wussten wir nicht so genau. Wir probierten einfach aus und sammelten Erfahrungen durch unsere Erfolge ebenso wie bei unserem Scheitern.
Aber die eigene, befreiende Erfahrung unserer Coming-outs stärkte uns und wir waren motiviert etwas zu tun, damit es anderen leichter fallen sollte. Viele Queers hatten diesen Willen. Aber die daraus entstandenen Projekte und Treffs gingen oft rasch wieder ein. Noch fehlte eine aktive Jugendbewegung, die auch das Know-how für Aktivismus weitergeben und diesen unterstützen konnte.
Erst im April 2010 gelang es mit der "LGBT-Jugend", damals eine Fachgruppe von Pink Cross und LOS, eine Konferenz in Bern zu organisieren. "Go for LGBT Youth!" war mein zweiter Anlauf, einen solchen Event auf die Beine zu stellen, und es war ein grosser Erfolg. 80 queere Jugendliche aus drei Sprachregionen und vom ganzen LGBT-Spektrum waren dabei. Dies wohlgemerkt zu einer Zeit, als in der Deutschschweiz noch niemand von LGBT+ sprach und das TGNS (Transgender Network Schweiz) gerade mal am Entstehen war. Leider schafften wir es nicht, die Kräfte aus dem grossen Tag in einen nachhaltigen Aktivismus zu lenken.
Noch vor der Konferenz in Bern, am 25-jährigen Jubiläum von IGLYO (The International LGBTQI Youth and Student Organisation) 2009 in Amsterdam, hatte ich eine wichtige Begegnung mit der Redaktion der niederländischen queeren Zeitschrift Expreszo. In den Niederlanden gäbe es keine nationale LGBT-Jugendorganisation, in gewisser Weise übernehme daher Expreszo diese Funktion. Spannend, fand ich, denn auch in der Schweiz fehlte ein Dach für die queere Jugend. Bei uns lief das meiste online über Purplemoon. Dass ich die Idee der Zeitschrift einmal übernehmen könnte, hätte ich damals aber nie gedacht.
Erst im Sommer 2011, also zwei Jahre nach der Anregung in Amsterdam und ein Jahr nach der Konferenz in Bern, begann sich bei mir die Idee für eine Zeitschrift als Basis für eine queere Jugendbewegung zu verfestigen. Mittlerweile war ich 26 Jahre alt geworden, gehörte also nicht mehr in die Zielgruppe (16 bis 25), ich war jedoch überzeugt davon, in diesem Projekt noch umzusetzen, was ich durch vielfaches Scheitern und unzählige Begegnungen in der Community gelernt hatte. Nicht zuletzt, dass sich ein partizipatives Jugendprojekt eigentlich gut finanzieren lassen müsste.
"Weisst du wie aufwändig es ist, ein Heft rauszubringen?" Anfangs konnte ich meine Mitstreiter*innen nicht überzeugen, beim Projekt Zeitschrift mitzumachen. Doch zum Glück haben mich einige trotzdem unterstützt. Mit ihnen konnte ich die Idee diskutieren, konkretisieren und richtig planen. Im Herbst 2011 übernahm Nicola Caduff schliesslich den grossen Part, das Konzept "Entwicklung eines queeren Jugendmagazins" auszuformulieren, um vom zuständigen Bundesamt Fördergelder für die ersten paar Ausgaben beantragen zu können.
Darin schrieben wir: "Die vorhandenen Informationen für queere Jugendliche stehen damit im Kontext des Nicht-Dazugehörens und Andersseins […]. Es fehlt ein Informationskanal, der einen unverkrampften Zugang zu einem positiven queeren Selbstverständnis ermöglicht." Neben diesem positiven Zugang zu Informationen gehörte zu den übergeordneten Zielen auch "eine Plattform, dank der sich queere Peers austauschen und organisieren können" sowie eine "Mitwirkungsmöglichkeit mit sichtbarem Ergebnis".
Im Herbst 2011 konnten wir dann Florian Vock (heute im Vorstand von Pink Cross) dazugewinnen, Verantwortung für die Redaktion zu übernehmen. Er prägte die inhaltliche Entwicklung unseres Magazins, das wir später Milchbüechli nannten und stärkte das Selbstverständnis der entstehenden Bewegung mit dem neuen Begriff "falschsexuell". Auf die Mitarbeit von Marco Cristuzzi durfte ich bereits an der Konferenz in Bern zählen. Er gestaltete über längere Zeit das Layout der Zeitschrift. Mit weiteren Mitstreiter*innen trafen wir uns am 19./20. November 2011 zu einem Redaktionsweekend. Wir tauften die Zeitschrift Milchbüechli und die Redaktion begann mit der konzeptionellen Arbeit.
Den Verein dazu gründeten wir relativ unspektakulär am 8. Februar 2012 im Aarauer Volkshaus und nannten ihn "Verein zur Förderung einer queeren Jugendplattform" (heute "Milchjugend"). Wir wählten nicht den gleichen Namen wie für das Heft, da wir damals schon hofften, dass einmal eine starke queere Jugendbewegung aus dem Projekt entstehen sollte. Rückblickend bin ich etwas überrascht, wie zurückhaltend wir ansonsten diese Vision beschrieben hatten, im Konzept steht lediglich: "Potentielle Weiterentwicklungen können sich direkt auf das Magazin beziehen oder aber auch Nebenaktivitäten zum Magazin sein."
"Offene Retraiten" waren von Anfang an vorgesehen. Das erste Weekend im November 2012 hatte jedoch gerade mal 11 Teilnehmende. Im Folgejahr kürzten wir die Retraite auf einen Tag und erreichten dann doch 24 Aktivist*innen. Heute sind "Milchreise" (Wochenendlager) und "Milch-Uni" (Weiterbildungsweekends) mit mehreren Dutzend Plätzen jährlich rasch ausgebucht.
Weniger funktionierte die angestrebte Online-Community zum gedruckten Heft. Es scheiterte wohl schon daran, dass sich - trotz professionell durch eine Agentur erstellter Website - das Aufschalten der ganzen Artikel als technisch viel zu aufwändig erwies. Die niederschwellig zugänglichen Diskussionen zu den Artikeln blieben also aus.
Dafür startete mit der ersten "Milchbüechli Party" im Dezember 2012 bereits eine "Nebenaktivität zum Magazin", die zweite folgte im Oktober 2013 im Aarauer KiFF. Ich erinnere mich an den wunderbaren Auftritt der Dragqueen Newcomerin Mona Gamie (deren Alter Ego Tobias Urech heute im Vorstand der Milchjugend ist).
Ganz locker verlief die Anfangszeit jedoch nicht. Aufmerksame Leser*innen werden anhand der genannten Namen schon eine Männerlastigkeit erkannt haben. Wir waren bemüht dem entgegenzuwirken. Ich bin Laura Eigenmann sehr dankbar, dass sie bald eingestiegen ist und durchgehalten hat.
Während es mit der Redaktion einigermassen lief, wussten wir vom Verein auf organisatorischer Seite nicht, ob wir überhaupt überleben. Die meisten Aufgaben machten immer etwa dieselbe Handvoll Aktivist*innen. Auf Dauer führte das zu Überlastungen. Im Frühling 2013 blieb ich schliesslich alleine im Vorstand übrig. Ich war am Punkt das Projekt trotz toller Erfolge aufzugeben und traf mich mit Roman Heggli (heute Geschäftsleiter von Pink Cross) um ihm mein Leid zu klagen. Er überraschte mich mit der spontanen Zusage, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Später erzählte er mir dann, das sei für ihn schon klar gewesen, bevor wir uns getroffen hatten. Wir machten also weiter und konnten Ende 2013 mit dem Abschlussbericht zum Projekt "Entwicklung eines queeren Jugendmagazins" ein Zwischenfazit ziehen.
Ab 2014 konnte die Milchjugend als Bewegung richtig durchstarten. Das übernahm aber schon bald der neue Vorstand mit Roman Heggli, Florian Vock und Kristina Schüpbach. Ich durfte die Jugendorganisation endlich an die Jugend übergeben. Bis heute sehe ich mit grosser Freude zu, wie diese bunte Bewegung weiterwächst und innerhalb der Community landesweit an Bedeutung gewinnt.