Über die ersten Jahre
von Laura Eigenmann, Florian Vock, Roman Heggli, Kristina Schüpbach
Dieser Beitrag erschien zuerst auf schwulengeschichte.ch
Es ist ein zartes Jubiläum: Vor zehn Jahren, am 8. Februar 2012, wird die Milchjugend in einem WG-Keller gegründet. Doch was passierte danach? Wie entwickelte sich die Milchjugend von einem DIY- (=Do it Yourself-)Herzensprojekt einer kleinen Gruppe von Freund_innen, welche die Begeisterung für Politik, Kultur und einen Hang zur Weltverbesserung teilten, zu einer professionellen Organisation, die sich über mehrere «Jugendgenerationen» hinweg halten konnte? Vier Aktivist:innen der ersten Stunde blicken auf zehn ereignisreiche, unerwartete und wilde Jahre zurück.
Es startete mit einem gedruckten Magazin, eigentlich ein anachronistischer Akt in dieser Zeit, in der die Begeisterung für die Digitalisierung und das Web 2.0, wie wir das «neue» Internet damals nannten, noch frisch war. Aber – radikal wie wir uns fühlten – wollten wir genau dieser Internetisierung mit einem Magazin im altmodischen Zeitungsformat etwas entgegensetzen.
Zuerst «nur» ein Magazin...
Uns war aber vor allem auch wichtig, inhaltliche Arbeit zu leisten und den dominanten Debatten etwas Anderes gegenüberzustellen. Die Art und Weise, wie damals über queere Jugend vor allem als Opfer gesprochen wurde, war uns suspekt. Wir wollten nicht mit Statistiken zu Suizidraten Mitleid erregen, sondern der Welt zeigen, wie lebendig, schön, kreativ und solidarisch unsere Bewegung ist. Wir wollten uns und unsere Kultur feiern, Platz schaffen, um über Dinge zu schreiben, die uns beschäftigen und begeistern, und so der heteronormativen Welt aktiv eine andere Welt entgegensetzen.
Die Nuller-Jahre waren auch die Jahre der Anpassung gewesen. Im Kampf um rechtliche Anerkennung betonten Aktivist:innen oft, wie «normal» und «gleichwertig» wir seien. Das ging uns auf die Nerven, politisch, historisch, aber auch aus persönlicher Erfahrung. Deshalb schrieben wir auf die Rückseite unserer ersten Ausgabe des Milchbüechli vom Juni 2012:
«Wir kümmern uns nicht darum, was die Anderen über uns sagen. Wir werden uns nie rechtfertigen. Wir wollen uns wehren. Sie nennen uns schwuchtlig, verkehrt oder pervers? Wir sind stolz drauf, so falsch zu sein. Auch du kannst stolz darauf sein, wie du bist.»
In jedes Heft steckten gut zwanzig Jugendliche ihr ganzes Herzblut. Zu den offenen Redaktionssitzungen brachten wir neue Freund:innen und Liebschaften mit, aber immer öfter kamen auch Menschen, die niemanden von uns kannten und die über das Heft auf uns gestossen sind.
...aber ein strategischer Start für (viel) mehr
Am Anfang waren wir nicht sicher, wie lange wir durchhalten würden - schliesslich war das Milchbüechli von A bis Z ein Produkt von Freiwilligenarbeit. Aber schon nach den ersten paar Ausgaben war klar, dass wir alle mehr wollten - mehr Räume, mehr Zeit zusammen, mehr Projekte. Als erstes riefen wir die Party Molke 7 ins Leben, die erst in Aarau, dann in Zürich stattfand, und bald darauf die Milchbar, ein wöchentlicher Treff in Baden. Aber eben, auch hier: keine sozialpädagogisch betreuten Selbsthilfegruppen! Einfach ein Jugendabend für Tee, Bier und Dragshows.
Der Wendepunkt jedoch war die erste Milchreise: Im Spätsommer 2014 organisierten wir ein ganzes Wochenende für queere Jugendliche. Unser inoffizielles Motto war «politische Homosexualisierung und Skills vermitteln». In Workshops, Talks und Partys sollten sie alles über queere Kultur und Geschichte lernen, etwa wie sie für unser Heftli schreiben, fotografieren, oder eine Party organisieren können.
Es reisten gut drei Dutzend Menschen aus der ganzen Schweiz an, die Jüngsten waren gerade mal 16, was wir schon damals unfassbar jung fanden. Die meisten von ihnen hatten wir noch nie gesehen. Wir hatten nun zwei Tage und eine Nacht Zeit, diese Menschen für unsere Utopien zu begeistern und in das Milchjugend-Universum einzuführen. Es war ein voller Erfolg. Nach diesem Wochenende ist die Milchjugend sprunghaft gewachsen. Aus dem kleinen eingeschworenen Kreis, der auch in Studi-WGs Feste feiern konnte, wurde eine immer grössere Familie. Seither wird die Milchreise jedes Jahr durchgeführt. Viele Besucher:innen blieben über Jahre treu, sodass später noch eine Milch-Uni für fortgeschrittene Aktivist:innen etabliert wurde.
Aber nicht nur der Kreis der Aktivist:innen ist spätestens ab 2015 gewachsen, sondern auch das Medieninteresse. Zu Beginn waren wir eher ein süsses, aber auch unverständliches Nischenprojekt, für das sich kaum jemand interessierte. Die Milchreise 2015 wurde bereits von einer Journalistin der lokalen Zeitung porträtiert, was uns ganz aus dem Häuschen brachte. Ab 2016 konnten wir uns vor Medienanfragen kaum noch retten. Das NZZ Folio aus dem Jahr 2017 zum Beispiel porträtierte in der Ausgabe Sex & Gender mehrere Milchjugend-Aktivist_innen.
Die immer häufiger werdenden Medienanfragen führten aber auch zu grosser Frustration über die «Zooisierung» der Jugendlichen. In einer langen Mail von 2018 an die gesamte Chefredaktion von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) formulierten wir es so:
«Sie wollen persönliche Storys, möglichst intim, möglichst privat. Kaum je wurden wir nach politischen, gesellschaftlichen oder sozialen Einschätzungen gefragt. Wir sind aber kein Gemischtwarenladen von Menschen des Regenbogens.»
Behutsame Professionalisierung ab 2015
Das Wachstum unserer Bewegung in den Jahren nach 2015 brachte zwei Dinge mit sich: Einerseits überstiegen die unzähligen Ideen und Projekte langsam die recht ad-hoc gewachsenen Strukturen und die Kapazitäten der freiwilligen Aktivist_innen. Andererseits wuchsen Gründer_innen immer mehr aus dem Alter ihrer Zielgruppe heraus. Wir wussten: Damit die Milchjugend auf Dauer funktionieren und nicht mit dem Wissen und den Ressourcen einzelner Personen stehen oder fallen würde, mussten wir sie umstrukturieren und teilweise professionalisieren. Dank unserer historischen Arbeit war uns nur zu deutlich, wie viele tolle Jugendprojekte vergangener Jahrzehnte keine Generation lange überlebten.
Heute ist darum die Struktur der Milchjugend entsprechend angelegt: Ein Vorstand mit einer inzwischen fest besetzten Geschäftsstelle sorgt für die Sicherung der Netzwerke, des Wissens, der Finanzen und der Struktur. Dazu gibt es recht autonome Arbeitsgruppen, sogenannte Welten, die ganz unterschiedlich funktionieren, Dinge dezentral anreissen, umsetzen und auch daran scheitern dürfen - ohne damit gleich die gesamte Organisation zu gefährden. Jugendliche können daran wachsen; sehen, dass ihre Arbeit einen Unterschied herbeiführt, und sie finden auch mal Freundschaften fürs Leben.
Milchbüechli, Milchbar in Bern, Luzern, Baden oder Zürich, Milchreise als Weekend, Milch-Uni für die Weiterbildung von Aktivistinnen, lila als Kulturfestival mit Tausenden von Besucherinnen, Milchstrasse als App, Partys, Milchkino, Radio Milch, provokative Auftritte an der Pride… Die Liste aller Angebote und Tätigkeiten ist manchmal länger, manchmal kürzer. Diese Flexibilität muss eine Jugendorganisation von heute haben. Neue Jugendliche finden leicht ein Zuhause – oder die Möglichkeit, es sich selbst zu bauen. Dieser Spirit lebt auch nach zehn Jahren, obwohl zwischen der Gründer_innengeneration und den heutigen Aktivist_:innen fast zwanzig Lebensjahre liegen.
Definitiv ein Grund, das Jubiläum zu feiern!